Ob nun Pockau-Marienberg oder Holzhau-Moldava: Es geht nicht voran bei der Wiederinbetriebnahme stillgelegter Bahnlinien. Das Haus von Minister Dulig findet immer neue Ausreden, während andere Bundesländer nach den Fördermitteln greifen.
Als Minister Martin Dulig von der SPD vor einigen Tagen die Schwerpunkte der sächsischen Verkehrspolitik im Doppelhaushalt 2021/22 erläuterte, war ausführlich von der Stärkung des Öffentlichen Personennahverkehrs die Rede - insbesondere im ländlichen Raum. In der Pressemitteilung wird der Ausbau von Busverbindungen erwähnt, es geht um neue Fahrzeuge, Bildungsticket und Digitalisierung. Kein Wort indes findet sich dort zu einem Thema, auf das im Erzgebirge viele Menschen warten und zu dem es in jüngster Zeit etliche Lippenbekenntnisse gab: die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Eisenbahnstrecken.
Das Thema hätte das Zeug zu einer Erfolgsgeschichte: Ende Januar beschloss der Bundestag Änderungen am Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Als Teil des Klimapakets der Bundesregierung kann seither die Reaktivierung von Bahnstrecken mit bis zu 90 Prozent gefördert werden. Ende Juni brachte der Zweckverband Verkehrsverbund Mittelsachsen hier die Verbindungen Döbeln-Meißen, Holzhau-Moldava, Pockau-Lengefeld-Marienberg und Narsdorf-Rochlitz ins Spiel. Der Verband beschloss, auf diesen vier Strecken wieder Verkehr zu bestellen - unter Finanzierungsvorbehalt.
Als besonders vielversprechend gilt die Wiederaufnahme des Personenverkehrs nach Marienberg, eine Stadt mit fast 17.000 Einwohnern, seit 2013 ohne Bahnverbindung. Nächstes Jahr feiert die Bergstadt 500-jähriges Bestehen, es gibt touristisches Potenzial in der Unesco-Montanregion Erzgebirge. Und auch die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen stimmen: Der zwölf Kilometer lange Gleisabschnitt Richtung Chemnitz ist völlig intakt, es gibt ein Gutachten im Auftrag des Innenministeriums aus dem vergangenen Jahr, für das das Potenzial der Strecke untersucht wurde und das die Reaktivierung - inklusive neuer Haltepunkte - empfiehlt. Doch Duligs Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (SMWA) stellt sich quer.
Man wolle zunächst eine Potenzialstudie für mögliche Streckenreaktivierungen in ganz Sachsen in Auftrag geben, lautet die Begründung. Nächstes Jahr solle das passieren, Ergebnisse gibt es vielleicht 2023. Die Studie zu Pockau-Lengefeld-Marienberg aus dem von Roland Wöller (CDU) geführten Innenministerium kennt man, hat sie aber nach über einem Jahr noch nicht ausgewertet. Duligs Sprecher Jens Jungmann erklärt: "Das SMWA sieht zum gegenwärtigen Zeitpunkt davon ab, einzelnen Vorschlägen - die vor allem auch nicht durch das SMWA beauftragt wurden - einen zeitlichen und inhaltlichen Vorzug einzuräumen." Es gibt offenbar politische Befindlichkeiten. Passt es einem SPD-Minister nicht, dass ein CDU-Minister hier Vorarbeit leistete?
Noch einmal alles in Ruhe prüfen, obwohl längst Ergebnisse vorliegen: Der Bürgermeister der Stadt Pockau-Lengefeld, Ingolf Wappler (CDU), hält die Verzögerungen bei der Reaktivierung von Bahnstrecken für einen Riesenfehler. "Die Entscheidung des Landes darüber kann nicht erst 2023 oder später erfolgen", sagt er. "Das wäre verantwortungslos." Sachsen dürfe nicht zusehen, wie das vom Bund bereitgestellte Geld in andere Länder abfließt und dann für sächsische Strecken nichts mehr übrig bleibt.
Tatsächlich sind andere weiter. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) nennt Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Hessen, Saarland und Nordrhein-Westfalen als Vorreiter. "Dort sind die Länder sehr aktiv dabei, die zur Verfügung stehenden Bundesmittel in dortige Reaktivierungsprojekte zu leiten", erklärt VDV-Geschäftsführer Martin Henke.
Der Verband wundert sich auch über eine andere Argumentation aus dem Dulig-Ministerium. Dort stellt man inzwischen generell infrage, dass es für die Strecke Pockau-Lengefeld-Marienberg überhaupt Fördermittel gibt. Begründung: Der Verkehrsweg müsse vollständig außer Betrieb sein. Tatsächlich rollen dort aber noch gelegentlich Güterzüge im Auftrag der Bundeswehr. "Die Auslegung des Verkehrsministeriums können wir so nicht nachvollziehen", sagt VDV-Chef Henke. Als Reaktivierung sei auch die Wiederaufnahme des Personenverkehrs bei einer nicht im Gesamtverkehr stillgelegten Strecke anzusehen. "Dies hat das Bundesverkehrsministerium ausdrücklich bestätigt. Nahezu alle derzeit von anderen Bundesländern zur Anmeldung beim Bund diskutierten Strecken fallen in diese Kategorie."
Nicht nur in Pockau steht das sächsische Verkehrsministerium auf der Bremse. Auch der Wiederaufbau der seit 1945 unterbrochenen Erzgebirgsquerung von Freiberg nach Most, dem früheren Brüx, kommt nicht voran. Vereine und Bürgermeister aus fast 20 Kommunen auf beiden Seiten der Grenze bemühen sich um den Lückenschluss zwischen Holzhau und dem tschechischen Moldava (Moldau).
Im September schickten die Interessengruppen "Freiberger Muldentalbahn" und "Moldauer Bahn", unterstützt von den EU-Abgeordneten Peter Jahr (CDU) und Tomáš Zdechovský (KDU-ČSL), zum zweiten Mal einen Aufruf an Minister Dulig und baten um zeitnahe Umsetzung einer Machbarkeitsstudie. Das Verkehrsministerium hatte bereits im Juni 2019 angekündigt, eine solche Studie in Auftrag zu geben. "Die Ausschreibung erfolgt jetzt", sagte damals ein Sprecher. Anderthalb Jahre später ist diese Ausschreibung immer noch nicht erfolgt. "Gegenwärtig wird die Vergabe vorbereitet und sollte kurzfristig erfolgen", teilte das Ministerium jetzt mit. Zur Erläuterung hieß es: "In den letzten Wochen wurde die Aufgabenstellung definiert und präzisiert."
Die Frage ist nun: Wie viel Druck kommt aus der Koalition? Mitte Oktober fasste der Landesparteirat der Grünen einen Beschluss, in dem die Regierung aufgefordert wird, zügig Aktivitäten zur Vorbereitung der Reaktivierung mehrerer Bahnstrecken im Freistaat aufzunehmen. Darunter ist auch Pockau-Marienberg. Die Grünen erinnern an das Gutachten aus dem Innenministerium und kritisieren: "Das SMWA blockiert die Veröffentlichung und verweigert die für die Reaktivierung erforderlichen Anteile aus den Regionalisierungsmitteln."
Sebastian Walter, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Verkehr der sächsischen Grünen, mahnt: "Die Förderbedingungen des Bundes sind so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wir sollten die Strecke nach Marienberg schnell ertüchtigen und nicht darauf warten, bis der nächste Konjunkturabschwung auf die öffentlichen Haushalte durchschlägt."